Normal ist relativ ist normal ist …

Gestern war eine liebe Freundin zum Brunch zu Besuch, und ich muss sagen, solche Begebenheiten sind derzeit das Highlight meiner Woche. Weil sie aufgrund ihrer derzeitigen Seltenheit eine gewisse Normalität darstellen – nicht nur wegen meiner Erkrankung, sondern auch wegen der Pandemie. Da die Chemo mein Immunsystem mehr oder weniger plattmacht, halte ich mich derzeit noch mehr von Menschen fern als eh schon. Okay, ich war jetzt vorher auch nicht gerade ein schillerndes Society-Sternchen, das von Party zu Party flattert, aber zuletzt hatte ich schon ein bisschen Sorge, mich dieser Tage so weit von der Gesellschaft zu entfernen, dass ich am Ende nicht mehr zurückfinde. Ich bin ja auch so vergesslich geworden! Das könnte irgendwann zum Problem werden, wenn man nicht mehr weiß, wie man sich benimmt, wenn auf einmal wieder andere Menschen mit im Raum sind. War lautes Rülpsen jetzt gesellschaftlich anerkannt oder nicht? Leckt man Messer ab oder schmiert sie einfach an der Jogginghose ab? Wohin klebt man Popel, wenn man kein Taschentuch dabei hat? Darf man sich in Anwesenheit anderer Menschen die Unterbuxe aus der Ritze friemeln, oder wird das im Allgemeinen als unfein empfunden? Ich bin da nicht mehr in allen Aspekten firm.

Auf jeden Fall hatten wir einen sehr schönen Brunch, natürlich ging es auch mal um Krankheiten, Gedärm und Pestilenz, aber nicht nur. Ich hatte auch schon Treffen mit Freundinnen, in denen die Frage nach meinem Wohlbefinden erst nach einer ganzen Weile kam, „weil du so gut und normal aussiehst“ – und das ist das beste Kompliment, das ich derzeit kriegen kann. Wenn der normale Alltag darin besteht, sich in einer Woche bestmöglich von der Chemo zu erholen, um sich die nächste Dröhnung verpassen lassen zu können, wenn Handarbeiten zum Sport wird und dann auch noch das Wetter so mistig ist, dass man am liebsten den ganzen Tag im Bett bleiben würde, freut man sich sehr über den Satz, dass man normal und eben nicht krank aussieht.

Womit ich größere Probleme hab, und das auch, wenn ich weiß, dass solche Sätze lieb und gut gemeint sind: „Kümmer dich doch nicht um XY, konzentrier dich doch lieber darauf, gesund zu werden.“ Oder „du hast doch gerade ganz andere Sorgen, mach dir doch keine Gedanken um dies/das/Ananas“. Das stimmt natürlich alles, aber wenn man das ganz übertrieben zu Ende denkt, heißt es auch: Normalität und normale Sorgen gibt es für dich gerade nicht, du hast Krebs, und den hast du 24/7, und sonst hast du nix.

Aber so funktioniert es eben nicht. Ich kann nicht den ganzen Tag dran denken, dass ich krank bin – abgesehen davon, dass das ganz automatisch passiert, wenn die Nebenwirkungen der Chemo zuschlagen. Wenn ich mich aber bewusst den ganzen Tag nur drauf konzentrieren müsste, gesund zu werden, würde ich bekloppt. Also noch bekloppter, als ich eh schon bin, und das kann ja nun keiner wollen. Es ist im Gegenteil ganz schön, hier und da mal „normale“ Sorgen zu haben und normale Dinge zu tun, wie etwa Weihnachtskarten zu schreiben (auch wenn das anstrengend ist), einem hübschen jungen Mann hinterherzugucken, an die Redaktion zu denken, die Wohnung auf Vordermann zu bringen usw. Denn die Welt da draußen hält ja nicht an und wartet auf mich, nur weil ich krank bin. Es wird schwer genug, irgendwann wieder in den gewohnten Alltag zurückzukehren, jeden Tag mit mehreren (!) Menschen zu tun zu haben und das alles ohne den Krebs-Bonus, der mir gestattet, gelegentlich (höhö) missgelaunt zu sein. Da ist es vielleicht eine ganz gute Idee, den Alltag zumindest portionsweise wieder ins Leben zu lassen.

Wobei – nach jedem Einkauf bin ich zurzeit ehrlich gesagt heilfroh, wenn ich wieder zu Hause unter die Decke kriechen kann. Und das nicht nur wegen des Wetters.

Ich kann auch ohne Krebs scheiße drauf sein

Man muss dieser Tage ja wirklich aufpassen, was man so im Internetz postet. Da macht man unbesehen einen dummen Spruch, schreibt irgendwas mit „fuck this shit“ bei Twitter oder ins Fratzenbuch rein, und schon denken alle, der Tumor habe seinen zweiten Frühling erlebt oder sei mindestens wie ein Alien aus meiner Bauchdecke herausgetanzt.

Nein, Kinners, manchmal ist die lustige Tante einfach nur so scheiße drauf und nicht, weil sie Krebs hat. Denn ich denke nach wie vor nicht 24/7 an den Krebs, zumal ich vermute, dass er eh nur noch ein sehr trauriger kleiner und poröser Zellhaufen ist, der dank der Chemo noch hässlicher ist, als er eh schon war.

Also: Nicht immer alles auf den Krebs beziehen, was ich so schreibe. Es gibt noch 1000 andere Dinge da draußen, die mir auf den Sack gehen. Weil ich eben einfach so ein kleiner Sonnenschein bin.

Darf ich okay sein?

Mit der geistigen Gesundheit ist das ja so eine Sache. Wenn man sie nicht hat, sollte man sich gut überlegen, ob man das jemandem mitteilt und vor allem, wem. Man kann sich ja teilweise schon denken, was die anderen sagen. Oder man weiß es, weil man es bereits probiert hat, über seine Macken zu sprechen.

Und na ja, eigentlich ist es ja auch wahr, eigentlich hat man ja alles, anderen geht es ja tatsächlich viel schlechter und eventuell muss man wirklich einfach mehr an die frische Luft, dann wird das alles schon wieder. Und man funktioniert ja auch noch ganz gut, ein bisschen Knirsch und Knack gibt es in jedem Getriebe, kneifen wir den Arsch halt zusammen, dann geht das schon. Hopphopp, wieder an den Schreibtisch, es gibt Dinge zu tun. Und komischerweise geht es irgendwie wieder.

Aber so insgeheim fragt man sich doch, ob es nicht auch anders sein kann. Ob man abends immer so kaputt sein muss, auch wenn der Job echt Spaß macht und die Kolleg*innen prima sind. Ob man Treffen mit Freund*innen nicht anders als noch eine Verpflichtung sehen müsste, die man, obwohl man weiß, dass es schön wird, ab liebsten absagen würde. Ob man nicht mal wieder was malen oder schreiben sollte. Ob man wirklich erst immer sonntagsabends die nötige Entspannung erreichen sollte, um endlich in ein Wochenende zu starten, das den Namen auch verdient. Über so was macht man sich dann Gedanken, wenn man drei Stunden dösig auf dem Sofa liegt, von dem man eigentlich vor zwei Stunden hatte aufstehen wollen, um Dinge zu tun.

Und im Grunde ist einem klar, was helfen würde, aus dieser Falle zu entkommen: weniger. Weniger unterwegs sein müssen, mehr zu Hause bleiben können, weniger Kontakt zu Menschen. (Das klingt hart, aber ich habe schon immer viel Zeit für mich alleine gebraucht, um nicht unter die Räder zu kommen. Auch Begegnungen, die mir Spaß machen, strengen mich an.) Wenn man all seine Energie für Begegnungen mit Menschen in acht Stunden Büro aufbraucht, ist klar, dass man abends nur noch mit Elchen zu tun haben will/kann, die nicht gerade als Plaudertaschen bekannt sind.

Gerade, als ich im März dachte, sehr lange geht das jetzt aber nicht mehr so weiter mit mir, kam mir etwas zu Hilfe. Eine Pandemie.

Von einem auf den anderen Tag durfte ich zu Hause arbeiten, keine Freund*innen mehr treffen, leider auch auch die Familie vorerst nicht mehr. Das war alles etwas überraschend, es ruckelte zu Beginn noch hier und da, aber nachdem ich mich erst mal eingerichtet hatte, so etwa nach zwei Wochen, begann eine der besten Zeiten meines Lebens. Und weil ich weiß, wie das klingt, habe ich sehr lange gezögert, diesen Text zu schreiben. Aber weil ich Hoffnung habe, dass es anderen auch so geht, hab ich es jetzt doch getan. So.

Um es ganz deutlich zu sagen: Es ging mir seit Jahren nicht mehr so lange Zeit am Stück gut. Zunächst mal fiel der Weg zur Arbeit weg, der, egal, ob ich mit dem Auto, dem Rad oder zu Fuß unterwegs bin, mit Idioten gepflastert ist, die mir nach dem Leben trachten. Das waren schon mal 40 Minuten mehr Lebensqualität – jeden Tag. Und überhaupt die Zeit. So viel mehr Zeit! Mein Dienst von zu Hause beginnt eine halbe Stunde später als zu normalen Zeiten, was bedeutete, dass ich mich nach dem Frühsport nicht mehr so abhetzen muss oder vor der Arbeit bequem einkaufen gehen kann. Haare föhnen nach dem Duschen fällt auch weg, sieht ja keiner. Gleiches gilt für Make-up. Und ob man Hosen trägt, ist auch egal. (Mach ich aber trotzdem, ich bin ja kein Tier.) Ich hab noch nie so viel Gesundes gegessen wie zu Homeoffice-Zeiten, ich konnte ja in der Mittagspause mal eben in meine Küche springen und was zaubern. Und das mit Glück auch noch auf dem Balkon essen. Das ganze Stressessen fiel weg, ich hab bislang drei Kilo abgenommen. Nach der Arbeit direkt zum Yoga? Kein Ding, einfach rüber ins Schlafzimmer, Sportsachen an und los. Kein Arbeitsweg mehr, auf dem man es sich dreimal anders überlegen kann. Der Weg vom Schreibtisch zum Sofa dauert auch nur zwei Minuten (das Umziehen von der Jeans in die Jogginghose eingerechnet), fertig ist der Feierabend.

Auf einmal konnte ich mir meine Zeit so einteilen, wie ich wollte, es gab keine Störungen, keine Überraschungen, selten wurden meine Pläne über den Haufen geworfen. Ich hab so viel gemalt wie noch nie, ich habe nach mehr als zehn Jahren, die ich mit dieser Idee schwanger gehe, endlich meinen Romanplot fertiggeschrieben, mich um meine Pflanzen gekümmert, bin viel spazierengegangen, gejoggt, hab Yoga und Krafttraining gemacht und meine Wohnung verschönert. Ich war glücklich, nein, ich bin es immer noch. Nachdem ich endlich nicht mehr das Gefühl hatte, dass 24 Stunden am Tag an mir herumgezerrt wird, hatte ich endlich Zeit, mich wieder neu zusammenzusetzen.

Aber noch ein Gefühl war lange Zeit da: Schuld. Schuld, dass es mir so gut ging und dass ich schon wieder kaum jemandem sagen konnte, wie ich mich fühle. Dass ich als Freak angesehen wurde, weil ich nicht litt. Denn musste es mir nicht schlecht gehen, weil ich so isoliert zu Hause saß, weder Kolleg*innen noch Freund*innen sehen konnte, allein vor mich hin arbeiten musste, musste ich nicht in das allgemeine Jammerkonzert einstimmen? (Und damit meine ich ganz klar nicht die Menschen, die wirklich aus vielen Gründen unter der neuen Situation litten und leiden. Denen gilt meine volle Solidarität, mein ganzes Mitgefühl.) Ich war kurz in Versuchung, denn jetzt hätte ich endlich mal all das loswerden können, was ich sonst immer auf dem Herzen hatte. Jetzt hätten es sicher alle verstanden. Aber dann dachte ich: Warum zur Hölle? Ich muss mir keine Sorgen um meinen Job machen, noch nicht mal um mein Gehalt, ich kann mir meine Zeit frei einteilen, ich muss keine Kinder zu Hause unterrichten, ich gehöre nicht zu irgendeiner Risikogruppe, kann immer noch Sport machen wie vorher – ich hab alles, warum soll ich jammern? (Was ja lustigerweise das „Argument“ ist, mit dem einem die Leute sonst immer die depressiven Verstimmungen ausreden wollen.)

Also hab ich irgendwann beschlossen, diese Zeit tatsächlich als Geschenk zu betrachten. Der Druck kommt früh genug zurück.

Mit dem Humor am Ende

Da wir ja gerade den Internationalen Weltfrauen „feiern“ und man mir deswegen zuhören muss, hier ein paar Sachen, die ihr euch (und ich spreche mit diesem Text Männer und Frauen an, dass sich hier am Ende keiner rausredet) in Zukunft bitte ebenso wie die Rosen zum Weltfrauentag dahin stecken könnt, wo keine Sonne scheint:

  • Die Annahme, dass ich als Frau gerne eine Rose geschenkt bekommen möchte. Ich möchte gleiche Rechte für alle, weltweit. Oder eine Flasche Schnaps. Und zwar den richtigen, harten, nicht dieses rosa Gesuppe, von dem Frauen unterstellt wird, dass wir das gerne trinken.
  • Die Meinung, dass der Mann an sich gefeiert werden muss, weil er mal den Müll runterträgt. Lasst euch mal von meinem Papa erklären, wie das geht, wenn man zusammen wohnt und dabei ganz selbstverständlich die Hälfte der Aufgaben an Hausarbeit und Kinderverziehung übernimmt. Das hat der nämlich schon in den 70ern gemacht. In den SIEBZIGERN, ihr Schiffsschaukelbremser*innen.
  • Die Annahme, dass Frauen gerne die Halbtagsstellen nehmen, weil sie sich ja eh die Hälfte der Zeit um die Familie kümmern wollen. Und die „Karrierefrau“-Abstemplung der Frauen, die gerne in Vollzeit arbeiten, weil sie irgendwann man denken gelernt haben und diese Fähigkeit jetzt gern im Berufsleben anwenden wollen, die kann auch weg.
  • Die Annahme, dass alle Frauen gerne Kinder wollen und sich auch prinzipiell gerne um andere Menschen kümmern.
  • Die Forderung, dass Frauen lieb zu sein haben, damit sie bekommen, was sie wollen. Oder immer lächeln sollten. Erstens hat das Liebsein in den vergangenen Jahrhunderten ja wohl wirklich mal gar nichts gebracht, und der letzte Typ, der mir sagte, ich solle mal lächeln, er habe lieber was Schönes zum Angucken, wird das hoffentlich nie wieder zu einer Frau sagen. (Und der Typ daneben, der das mitbekommen hatte, bestellte mir ein Bier. So geht das.)
  • Die Meinung, wenn eine Frau sich sexy anziehe, sei sie eine Schlampe und „wolle es doch auch“. Wir dürfen anziehen, was wir wollen, und wenn euch unsere Orangenhaut nicht passt, dürft ihr gerne wegschauen und die Klappe halten. Niemand hat mir zu sagen, was ich anziehen soll oder wie ich meine Haare zu tragen habe.
  • Ansagen wie „dann meld dich doch mal bei Parship an“. Geht es in eure Köpfe, dass man auch als Frau alleine sehr glücklich sein kann?
  • Die Denke, dass Frauen keine Körperfunktionen haben und immer gut riechen und von Natur aus haarlos sind. Und dass wir blaue Ersatzflüssigkeit ausscheiden, weil das hübscher aussieht.
  • Sprüche wie „haha, ihr habt doch schon alles erreicht, wir brauchen langsam mal einen Männerbeauftragten, wir dürfen ja bald gar nichts mehr, haha“. Einen Scheiß haben wir erreicht. Nur weil ich persönlich tatsächlich dasselbe verdiene wie meine männlichen Kollegen, hat sich nicht auf wunderbare Weise die Lage der Frauen in aller Welt verbessert. Und deshalb kann ich mich nicht zurücklehnen und die Klappe halten.
  • Das Vorurteil, dass Feministinnen Männer hassen. Ich hasse so ziemlich alle Menschen gleichermaßen, die, die mir ungefragt die Welt erklären, vielleicht noch ein bisschen mehr. Aber ich kenne so viele großartige Männer, die ganz selbstverständlich Feministen sind und denen trotzdem kein Ei aus der Hose gefallen ist.
  • Die Annahme, beim Feminismus gehe es darum, Männer zu benachteiligen. Nein, meine lieben Blödmannsgehilf*innen, es geht darum, dass wir alle dieselben Rechte und Pflichten haben, ob Mann, Frau, divers, weiß, schwarz, dunkelgrün, Menschen mit deutschem Pass oder welche, die von woanders weg sind. Und der nächste Satz richtet sich jetzt doch mal größtenteils an die Männer: Hört auf, rumzuheulen, wenn Frauen dieselben Rechte zugestanden werden wie euch. Ihr habt deswegen nicht weniger Rechte, es sind genug Rechte für alle da. Hätten wir alle dieselben Rechte, wäre unser aller Leben besser.

Und jetzt, da ich all das aufgeschrieben hab, fühle ich mich sehr, sehr müde. Weil ich das alles nicht zum ersten Mal aufgeschrieben oder erklärt habe, auch nicht zum 20. Mal.  Ich bin mit der Geduld am Ende und mit dem Humor auch. Ich kann über diese ganzen Idiotien nicht mehr milde weglächeln. Es erscheint mir alles immer sinnloser, weil sich so wenig so langsam ändert. Die guten Leute wissen all das, was ich hier erkläre schon, die haben das schon vor Jahren verstanden und leben das alles ganz selbstverständlich. Und die Doofen werden es entweder nicht lesen, nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Und die Doofen sterben halt nie aus, das macht mich so müde.

Voll auf den Nerv

Ich habe zu Schulzeiten nicht einmal die Schule geschwänzt, wirklich kein einziges Mal.

Doch, Moment. Ich durfte einmal mit Erlaubnis meiner Eltern zu Hause bleiben, weil unser damaliger Mathelehrer eine Arbeit schreiben lassen wollte, in die er neue Themen packen wollte, die er zuvor nur sehr unzureichend erklärte hatte. Ich hätte diese Arbeit verhauen und hätte mir damit eine Note versaut, und meine Eltern sagten, ich dürfe an diesem Tag zu Hause bleiben. Aber eigentlich zählt das nicht als Schwänzen – mit Erlaubnis ist es ja legal und somit langweilig.

Ich habe mich als Teenager nicht übermäßig für Politik und Klimaschutz interessiert, wobei ich schon Angst hatte, was sauren Regen, Waldsterben und Umweltverschmutzung anging. Aber meine Strategie, was Unangehmes angeht, war schon in jungen Jahren: Augen zu, nicht dran denken, dann geht es vielleicht von alleine weg.

Ich war bislang zweimal in meinem Leben auf einer Demo. Die eine in den 90ern gegen den Irak-Krieg, die zweite etwas später zu Studienzeiten gegen eine geplante Einführung von Studiengebühren.

Auf nichts von den oben erwähnten Dingen bin ich besonders stolz, ich wäre gern wagemutiger, vielleicht sogar unvernünftiger gewesen, anstatt wie immer überall nur Probleme zu sehen und deswegen lieber brav und langweilig zu bleiben. Ich hätte mich viel früher für Politik interessieren sollen, und vor allem hätte ich öfter auf die Straße gehen sollen. (Heute ist das Problem, dass ich oft arbeiten muss, wenn große Demos in Hamburg sind, weil mein Sender darüber berichtet, aber nun.)

Ich habe also den größten Respekt vor jungen, mutigen Leuten wie Greta Thunberg, die jetzt einfach mal die Schnauze voll haben von der Art, wie die Dinge heute laufen, und die auch tatsächlich etwas dagegen tun, die aufstehen, laut sind und nicht länger schweigend alles hinnehmen, was die Erwachsenen so anrichten.

Und genauso groß wie mein Respekt ist auch meine Wut. Meine Wut über die Berufsmotzer, die die Freitagsdemos peinlich finden, Greta Thunberg belächeln, weil sie irgendwie „anders“ sei, laut tönen, die jungen Leute sollten lieber in die Schule gehen, anstatt Erwachsene zu kritisieren. Mal abgesehen davon, dass aufgrund des Lehrermangels sowieso dauernd Stunden ausfallen, wieso sollte ich als Schüler*in denn noch (oft nutzloses) Wissen anhäufen, wenn die Welt gerade den Bach runtergeht? Dauernd schimpfen sie, die Alten und Verknöcherten, die Teenager heutzutage seien zu uninteressiert und zu unpolitisch, aber wenn sie auf die Straße gehen, ist es auch wieder nicht recht? Ich bin unfassbar genervt von diesen chronisch Schlechtgelaunten, die alles und jeden doof finden wollen und sich dann an einer Nichtigkeit aufhängen, damit sich die Diskussion auch bitte schön weit weg vom eigentlichen Kern entfernt, damit man über den bloß nicht mehr nachdenken muss.

Wir sollten langsam mal aufhören, nur Erwachsene und vermeintliche Experten als zurechnungsfähig und ernstzunehmen einzustufen. Wenn man sich mal anschaut, was wir bezüglich der Bewahrung von Ressourcen und des Umweltschutzes allein in den vergangenen 100 Jahren so geleistet haben, sollten wir mal schön die Klappe halten, das war kein besonders guter Job. Nennen wir das Kind ruhig deutlich beim Namen: Es war ein beschissener Scheiß-Job, den wir da hingelegt haben. Und wenn wir Greta Thunberg und all die anderen jungen Leute brauchen, um uns das zu sagen und vielleicht Dinge zu ändern, dann sollten wir froh sein, dass wir sie haben. (Genauso, wie die USA froh sein können, dass Emma Gonzalez und ihre Freunde gegen den dortigen Waffen-Wahn der NRA kämpfen und die Jugend mobilisieren. Aber das ist noch mal ein ganz anderes Thema.)

Und dann wollen wir doch ganz am Ende eines nicht vergessen: Dafür, dass Greta Thunberg angeblich keine Ahnung hat, nur ein kleines Mädchen mit einer fixen Idee ist, dafür regen sich gewisse Leute doch ein bisschen zu viel über sie auf. Das zeigt, dass sie offenbar einen Nerv getroffen hat.

Und ein schmerzender Nerv lässt sich nur ganz schlecht ignorieren. Gut so.

 

Ferienwohnung

Wie einige geneigte (haha) Leser vielleicht wissen, bin ich vor einiger Zeit umgezogen. Die alte Wohnung war mir endgültig zu schimmelig geworden, der laute Nachbar zu laut, der Nachtspeicherofen zu teuer und zu unpraktisch. Also begab ich mich auf Wohnungssuche in Hamburg und zog nur wenige Wochen später um. Glaubt mir keiner? War aber so. Ich hab mir tatsächlich nur elf Wohnungen angesehen, bei fünfen wusste ich schon vorher, dass sie eigentlich nichts sein würden, aber ich wollte ja nicht gleich zu Anfang so wählerisch sein. Einige waren hübscher als auf den Bildern, andere nicht so und einige hatten so schangelige Badezimmer, dass ich wusste, ich würde die nicht so putzen können, dass ich sie benutzen wollen würde. Am Ende bewarb ich mich ernsthaft nur für zwei Wohnungen, wusste aber auf dem Nachhauseweg von der ersten bereits, dass ich die zweite lieber haben wollte. Die hatte ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht besichtigt, aber heute wohne ich drin.

Es war wirklich Liebe auf den ersten Blick. Ich weiß nicht, ob es der Wohnung auch so ging, aber ich wusste gleich beim Betreten, dass sie und ich untrennbar zusammengehören würden. Sie ist vielleicht nicht mehr ganz so ruhig wie die alte, weil sie an einem vielbefahrenen Kreisverkehr liegt, aber das stört mich nicht besonders. Sie hat alles, was ich immer haben wollte: einen Balkon, drei Zimmer (wie ich hier ja bereits schrieb, bin ich nun stolze Besitzerin eines magischen Schreibarbeitsnähmalbastelzimmers), Badewanne und vor allem einen Balkon. Seit 45 Jahren möchte ich gerne einen Balkon haben, und nun hab ich es endlich geschafft.

Wisst ihr, wie sich das anfühlt? Wie im Urlaub. Es ist wie eine Ferienwohnung, in der man sich, sehr, sehr wohlfühlt. Es ist das Gefühl zu wissen, dass man hier definitiv hingehört, gepaart mit dem Gefühl „AAAH! Ist das wirklich meinsmeinsmeins?!“

Ich hab den halben Sommer auf dem Balkon verbracht und in den Morgen-, Abend- und Nachthimmel geschaut, ich freue mich, dass die Arbeitsflächen in der Küche viel höher sind, was meiner Länge sehr entgegenkommt, ich habe schon wieder Bilder gemalt, ich freue mich, dass ich endlich einen Kleiderschrank habe, der nicht wackelt wie ein Lämmerschwanz und in den so unfassbar viel Zeugs reingeht; im Bad zieht es nicht wie Hechtsuppe, und wenn es jetzt Winter wird, muss ich mir endlich nicht mehr einen Tag vorher überlegen, ob wir kalt sein wird und wenn ja, wie sehr. Ja, es ist wie Urlaub!

Dazu passt, dass ich die Gegend um die Wohnung herum derzeit noch mal ganz neu entdecke. Und vor allem, wie es eben auch in den Ferien ist, weil ich auch richtig Lust draufhab, mir hier noch mal alles anzusehen. Alles ist auch nach dreieinhalb Monaten noch ganz neu und aufregend. Und das, obwohl die Wohnung lustigerweise in einer Parallelstraße von der Straße liegt, in der die Wohnung ist, in der ich ganz zu Anfang gewohnt hab, als ich das allererste Mal in Hamburg gearbeitet hab. Ich kenn das hier eigentlich alles, aber ich entdecke immer wieder was Neues. Zum Beispiel diesen bezaubernden Park hier:

WIE. URLAUB.

Das dritte Zimmer

Während ich dies schreibe, sitze ich an seinem sehr besonderen Ort. Ich sitze in meinem dritten Zimmer, dem dritten Zimmer, das ich mir schon so lange gewünscht hatte und das ich nun endlich wieder habe. Es sollte ein Arbeitszimmer sein, aber was es wurde, ist ein Bastelschreibmalkrumelnähhandarbeitsnachdenkkreativitätszimmer. Denn ich habe es geschafft, in diesem winzigen Zimmer drei Tische unterzubringen. Den Nähtisch, den Schreibtisch und den Maltisch. Es beherbergt meine ganzen gesammelten Papiere, mein Schmierpapier und meine Notizbücher, meine Bastelbücher, meine Unterlagen, die Scrapbooks, meine Acryl- und Stoffmalfarben, meine Buntstifte, meine Pastellkreiden. Hier lagern meine Stoffe, meine Skizzen, meine Entwürfe, das ganze halbfertige Zeug. Das dritte Zimmer verschluckt die ganze Unordnung, die bisher immer vor Weihnachten oder Geburtstagen von Freunden im Wohnzimmer herrschte. Hier liegt meine ganze Kreativität, hier kommt alles hin, was meinen Kopf zu voll macht. Das dritte Zimmer bewahrt es auf, ohne dass der Alltag aus Arbeit und Pflichten die Ideen kaputt macht. Hier liegt alles sicher und trocken.

Wenn ich ganz früh in diesem Zimmer sitze, sehe ich, wie sich der Himmel rot färbt, weil die Sonne an dieser Seite der Wohnung aufgeht. Und dann verarbeite ich die Sachen, die ich auf der anderen Seite der Wohnung in mein Notizbuch geschmiert hab, während ich am Abend vorher auf dem Balkon, dem zweiten sehr besonderen Ort dieser Wohnung gesessen und beobachtet hab, wie die Sonne unterging. (Aber zum Balkon kommen wir vielleicht ein andermal.)

Vielleicht ist es kein Wunder, dass ich in der alten Wohnung nie so richtig kreativ sein konnte, dass ich immer wollte und nicht konnte, wenn doch die ganze Kreativität hier, in der neuen Wohnung, in diesem magischen Zimmer, gefangen war.

Denn genau das ist es: ein magisches Zimmer.

(Und es ist mir vollkommen egal, dass das Fahrrad auf der Skizze ein zu kleines Vorderrad hat und die Perspektive nicht stimmt. Es ist das Erste, was ich seit Monaten gezeichnet habe, und es ist somit das schönste Bild eines Fahrrad ever. So.)

Warum ich nicht auf Klassentreffen gehe

Man mag es angesichts meines jugendlichen Aussehens kaum glauben, aber in diesem Jahr könnte ich 25 Jahre Abi feiern, wenn ich das wollte. Beziehungsweise ich könnte die Feier besuchen, die es anlässlich dieses Jahrestags geben wird, wenn ich das wollte. In der WhatsApp-Gruppe sind alle schon gaaaanz aufgeregt und freuen sich, während ich die ganze Zeit überlege, ob es zu pubertär wäre, am Stichtag einfach 20 Gifs mit Mittelfingern zu schicken, um die Gruppe direkt darauf zu blocken. (Ich bin nur deswegen noch in der Gruppe, weil ich chronisch neugierig bin. Es ist wie ein Autounfall. Man weiß, man sollte einfach weiterfahren und das Ganze vergessen, allein, man kann den Blick nicht abwenden.)

Aber um die Frage in der Überschrift ganz kurz und fix zu beantworten: Ich gehe nicht auf Klassentreffen, weil ich meine Zeit nicht mit Leuten verschwenden will, die ich früher schon nicht leiden konnte. Mit Leuten, die mich von der achten bis zur zehnten Klasse gemobbt haben und erst allmählich damit aufhörten, als die Klassenverbände in der Oberstufe aufgelöst wurden. Und nein, man kann das nicht so einfach hinter sich lassen, vergessen und verzeihen. Ich finde auch nicht, dass man das muss. Man sollte schon weiterleben und das alles irgendwie hinter sich zu lassen versuchen, aber es waren wichtige, prägende Jahre, in denen dieses Mobbing passierte. Und nur, weil etwas lange her ist, heißt das keinesfalls, dass es mich nicht immer noch beschäftigt und in mir nachwirkt. Das verklärt sich auch nicht im Rückblick. Falls eins von den Arschlöchern von früher diesen Text liest: Gut gemacht, ihr könnt stolz auf euch sein. Aber erwartet nicht, dass ich heute noch mehr als einen gelegentlichen Gedanken an euch verschwende. Dafür gibt es viel zu viele liebe Menschen in meinem Leben, die es wert sind, dass ich ihnen Aufmerksamkeit schenke.

Dazu kommt, dass einen ein Klassentreffen in Sekundenschnelle in die Schulzeit zurückfallen lässt. Das mag mancher schön finden, aber leider entwickelt sich auch meine Persönlichkeit dann zu diesem dussligen Mädchen zurück, das ich damals war. Von Mitschülern gemobbt, von Lehrern übersehen, die mir kaum was zugetraut haben. Das bin ich schon lange nicht mehr, wobei sich über eine gewisse Restdusseligkeit sicher trefflich streiten lässt. Ich hab es inzwischen ja doch zu ein bisschen was gebracht, und genau deswegen würde ich vermutlich rasch in das berühmte „Mein Haus, mein Auto, mein Pony“-Schema fallen. Schaut mal, ich bin leitende Redakteurin beim Norddeutschen Rundfunk, schaut mal, ich habe ein Buch geschrieben, schaut mal, ich wohne in der schönsten Stadt der Welt, und Westdeutsche Vizemeisterin im Kugelstoßen war ich auch mal. Ich würde es den Pennern von damals verzweifelt beweisen wollen, obwohl sie mir doch eigentlich komplett egal sein sollten. Und vermutlich würde von denen sicher mehr als einer sagen: „Aber Mann und Kinder haste nicht, oder?“ Und schon wäre ich wieder ein Verlierer, mit dem sich niemand abgeben will. Und für diese Spielchen bin ich mir zu schade.

Dabei bin ich durchaus noch mit Klassenkameraden von damals befreundet, einige hab ich auf Facebook wiedergefunden, und darüber freue ich mich sehr. Manche treffe ich sogar gelegentlich im echten Leben, und nur selten sprechen wir dann über die Schulzeit und die „guten alten Zeiten“. Dafür ist die Gegenwart doch viel zu spannend. Also: Habt ein schönes Klassentreffen, ihr sieben bis zehn netten Menschen von damals, schwelgt in Erinnerungen, macht es euch schön. Allen anderen entbiete ich die allerherzlichsten Grüße:

Angst vor dem Fremden

Vor einigen Jahren beschwerte sich mal eine ehemalige Klassenkameradin aus der Grundschule, sie könne ja in Lippstadt, unserer gemeinsamen Heimatstadt, nicht mehr frei denken, weil in den Turnhallen dort jetzt Flüchtlinge nächtigten. Es war keinesfalls so, dass sie sich Sorgen machte, dass es den Menschen dort in den beengten Verhältnissen nicht gutgehen könne. Nein, es ging vielmehr darum, dass sie sich in ihrer Freiheit beschnitten sah, weil in den Turnhallen Leute untergebracht waren, die nach einer traumatisierenden Flucht nun ihr und ihrer Familie nach dem Job, der Wohnung, womöglich gar dem Leben trachteten. (Dass die Familie dieser Klassenkameradin selbst in den 60ern aus dem damaligen Jugoslawien nach Deutschland gekommen war, lassen wir mal außen vor, die Sache ist schon absurd genug.)

Ich kenne leider noch einige Leute mehr, die so denken, und das Verstörende ist, dass diese Menschen in ihrem Alltag kaum Berührungspunkte mit „Ausländern“ haben, sie kennen keine Muslime persönlich, vom Judentum haben sie, wenn es hochkommt, mal irgendwas gelesen. Und trotzdem haben sie Angst vor diesen Menschen, die irgendwie anders sind, die sie in ihrer kleinen heilen deutschen Welt bedrohen könnten, womit auch immer.

Wie wenig Ahnung sie doch haben. Da sitzen sie in ihrer kleinen spießbürgerlichen Welt, in ihrer kleinen deutschen Höhle und ängstigen sich vor Menschen, denen sie wahrscheinlich vollkommen egal sind, weil die nämlich auch nur ihr kleines Leben leben wollen. Diese Spießbürger müssten mal in meinem Viertel in Hamburg leben, dann könnten sie wenigstens mitreden. In der Parallelstraße zu meinem Haus ist eine iranische Schule, noch eine Straße weiter findet sich eine Moschee, und sonntags höre ich die Glocken der Russisch-Orthodoxen Gemeinde. In der Hochhaussiedlung gegenüber wohnen ziemlich viele Menschen, die wohl einen „Migrationshintergrund“ haben, ein paar Straßen weiter gibt es ein brasilianisches Restaurant und einen asiatischen Lebensmittelmarkt. Ich bin umgeben von Menschen, die irgendwie anders sind als ich, es ist unfassbar. Habt ihr überhaupt eine Ahnung, wie so was das Leben beeinflussen kann? Wie oft ich jeden Tag mit Angst aus dem Haus gehe, weil mir fremdländisch aussehende Menschen begegnen können?

Ich sage euch mal, wie das mein Leben jeden Tag beeinträchtigt:

Gar nicht.