Keimfreie Kindheit

Manchmal, wenn ich Werbung schaue, frage ich mich, wie ich überhaupt so lange überleben konnte. Denn wenn ich der Werbung Glauben schenke, bin ich im widerlichsten Dreckloch aufgewachsen, das man sich vorstellen kann. Ich habe keine Ahnung, wie ich so groß und stark werden konnte – wo doch meine Mama nicht dauernd mit Desinfektionsmittel vor mir hergelaufen ist, um meine Umwelt keimfrei zu halten.

Ich durfte als Kind mit Matsche spielen, habe Gras gegessen und vermutlich auch große Teile der Sandgrube des alten Lippstädter Jahnplatzes durch mein Verdauungssystem geschleust. Ich habe von Brettchen gegessen, auf denen sich vermutlich unter Garantie mehr Keime befanden als auf einem Klodeckel. Wenn mir was zu essen auf den Boden gefallen ist, hab ich den Staub abgepustet und weitergegessen. Ich gestehe, dass ich mir als Kind nicht nach jedem Toilettengang die Hände gewaschen hab. Es gab damals Wichtigeres zu tun. Und das Erstaunliche: Ich habe überlebt. Und nicht nur das: Ich war auch als Kind relativ selten krank, hatte unter anderem bis heute noch nie eine Magen-Darm-Infektion. (Was aber auch daran liegen kann, dass ich den Pferdemagen meiner Großmutter geerbt hab. Wer weiß das schon.)

Und zum Glück waren meine Eltern nicht so hysterisch, wie die Werbung die Eltern heute gerne hätte. Der Spruch „Ach, Dreck scheuert den Magen“ begleitete mich durch meine gesamte Kindheit. Meine Eltern brachten mir bei, mich nicht auf öffentliche Toiletten zu setzen – ein sinnvoller Hinweis. Auch waschen musste ich mich jeden Tag, was ich auch heute noch so halte, schon um meiner sozialen Kontakte willen. Aber ansonsten pflegte und pflegt meine Familie einen wunderbar entspannten Umgang mit dem alltäglichen Schmutz. Die folgende Theorie ist nicht medizinisch fundiert, aber ich bin mir sicher, dass meine zahlreichen Allergien (von denen ich bis zu meinem 31. Geburtstag noch nicht mal wusste) heute viel schlimmer wären, wenn ich nicht in der Matsche und im Dreck hätte spielen dürfen und mir ein gescheites Immunsystem hätte zulegen dürfen. Aber auch möglich, dass ich nur Glück hatte. Allergien sind ja unberechenbar.

Aber heute soll ja alles und jeder geschrubbt werden, um eine angeblich keimfreie Umgebung zu schaffen und die Familie gesund zu erhalten. Spülschwämme, Toilettensitze, Frühstücksbrettchen – alles Horte von satanischen Keimen, die durch die Werbung noch dazu ein Gesicht und einen Charakter erhalten. Was für ein Unsinn.

9 Gedanken zu “Keimfreie Kindheit

  1. Es soll ja welche geben, die mit so einem Desinfizierungs-Tuch hinter den Kleinen herlaufen. Ich unterstütze vollkommen Deine Erziehungsberechtigten. Dreck reinigt den Magen!
    Ich bin übrigens mehr oder weniger auf einem Fussballplatz groß geworden, der direkt auf einem Bauernhof steht. Ab und an musste ich zwar 2m hinter meiner Mutter hergehen, aber ich denke das lag am Kuhmist…

  2. Ich kann dir nur zustimmen. Mein Kindheit war auch von Dreck begleitet – und ich war als Kind auch nicht oft krank, während eine Schulfreunding von mir nicht draußen gespielt hat, eine … sehr fürsorgliche Mutter hatte und dauernd krank war.
    Das spricht doch für sich ;)

  3. @Andreas: Super, nu ist meine These auch noch wissenschaftlich belegt. ;-)

    Interessant fand ich auch den Absatz über Einzelkinder – bis auf Asthma hab ich alles, was da steht. Aber ich hab zum Glück kaum Probleme damit und muss auch keine Medikamente nehmen. Dreck sei Dank!

  4. Ich kenn das, bin auch ähnlich aufgewachsen. Ein bisschen Bodenpfeffer auf dem Pausenbrot, sch…egal, ich hab Hunger, den gröbsten Dreck runter, Feierabend.
    Manchmal bekommt man echt das Gefühl, manche Mütter heutzutage würden ihr Kind am liebsten klinisch rein aufwachsen lassen, auch, wenn das garnicht so gut ist.
    Wie soll sich das Immunsystem des Kindes denn entwickeln? Wie soll der Körper des Kindes denn lernen sich zu verteidigen wenn der nichmal weiß, wogegen?
    Damit schadet man mehr, als man hilft.

  5. Aber es ist doch viel einfacher den Toilettensitz keimfrei zu halten, als dem Kindelein zu erklären, dass man ihn nicht ablecken darf.

    (Wischen, wedeln, sprühen ist leichter als erklären, ermahnen und zeigen. Und riecht viel besser.)

  6. @Frau … äh … Mutti: Da hatten meine Eltern wohl Glück, dass ich den Toilettensitz nie ablecken wollte. ;-) Und zu Hause erscheint mir das immer noch weniger bedenklich als auf einer Autobahnraststätte…

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..